Renditereihenfolge-Risiko: Gefährliche Zeit für ETF-Sparer kurz vor der Rente
Im Ruhestand ist die Reihenfolge der Renditen entscheidend. Ein Börsencrash in den ersten Entnahmejahren kann Ihr ETF-Vermögen ruinieren, selbst wenn die Durchschnittsrendite stimmt. Das ist das Renditereihenfolge-Risiko – die größte, oft ignorierte Gefahr für Ihr Kapital.

Was genau ist dieses Renditereihenfolge-Risiko?
Stell dir vor, du hast 30 Jahre lang in einen MSCI World ETF investiert. Ob der Markt im dritten Jahr +20 % und im vierten Jahr -10 % machte oder umgekehrt, war für dein Endergebnis ziemlich egal. Am Ende zählte die durchschnittliche, annualisierte Rendite. In der Ansparphase ist die Reihenfolge der Renditen fast irrelevant. Volatilität kann sogar dein Freund sein, denn bei fallenden Kursen kaufst du dank deines Sparplans mehr Anteile für dasselbe Geld (Cost-Average-Effekt).
Sobald du aber anfängst, Geld aus deinem Depot zu entnehmen, dreht sich das Spiel um 180 Grad. Ab diesem Moment ist die Reihenfolge der Renditen nicht nur wichtig – sie ist entscheidend. Beginnst du deine Entnahmephase in einem Bärenmarkt, hat das verheerende Folgen. Du bist gezwungen, deine ETF-Anteile zu niedrigen Kursen zu verkaufen, um deine Lebenshaltungskosten zu decken. Dadurch liquidierst du einen viel größeren Teil deines Portfolios, als du es bei hohen Kursen müsstest. Dieser Verlust ist permanent. Die verkauften Anteile können sich nicht mehr erholen, wenn der Markt wieder steigt. Du schneidest dir sozusagen ein Pfund Fleisch aus dem Rippen, das nie wieder nachwächst.
Ein paar schlechte Jahre am Anfang können so eine Abwärtsspirale in Gang setzen, die dein Kapital viel schneller aufzehrt als geplant. Dein Vermögen erholt sich von diesem anfänglichen Aderlass möglicherweise nie wieder vollständig, selbst wenn die folgenden 20 Jahre fantastische Renditen liefern.
Die Mathematik des Unglücks: Ein einfaches Zahlenbeispiel
Zahlen lügen nicht. Schauen wir uns zwei fiktive Ruheständler an, Anna und Ben. Beide starten am selben Tag mit exakt 500.000 € in einem identischen ETF-Portfolio in den Ruhestand. Beide planen, jährlich 25.000 € (5 % ihres Startkapitals) für ihren Lebensunterhalt zu entnehmen. Die durchschnittliche Rendite über die ersten vier Jahre ist für beide mit +5 % pro Jahr identisch. Der einzige Unterschied? Die Reihenfolge der Renditen.
Ben hat Glück mit der Reihenfolge:
- Jahr 1: Start: 500.000 €. Rendite: +20 %. Depotwert vor Entnahme: 600.000 €. Nach Entnahme von 25.000 €: 575.000 €.
- Jahr 2: Start: 575.000 €. Rendite: +15 %. Depotwert vor Entnahme: 661.250 €. Nach Entnahme: 636.250 €.
- Jahr 3: Start: 636.250 €. Rendite: -5 %. Depotwert vor Entnahme: 604.438 €. Nach Entnahme: 579.438 €.
- Jahr 4: Start: 579.438 €. Rendite: -10 %. Depotwert vor Entnahme: 521.494 €. Nach Entnahme: 496.494 €.
Ben hat nach vier Jahren und Entnahmen von insgesamt 100.000 € fast wieder sein Startkapital. Eine komfortable Situation.
Anna hat Pech mit der Reihenfolge (die Renditen sind genau umgekehrt):
- Jahr 1: Start: 500.000 €. Rendite: -10 %. Depotwert vor Entnahme: 450.000 €. Nach Entnahme von 25.000 €: 425.000 €.
- Jahr 2: Start: 425.000 €. Rendite: -5 %. Depotwert vor Entnahme: 403.750 €. Nach Entnahme: 378.750 €.
- Jahr 3: Start: 378.750 €. Rendite: +15 %. Depotwert vor Entnahme: 435.563 €. Nach Entnahme: 410.563 €.
- Jahr 4: Start: 410.563 €. Rendite: +20 %. Depotwert vor Entnahme: 492.675 €. Nach Entnahme: 467.675 €.
Obwohl Anna dieselbe Durchschnittsrendite erzielte und denselben Betrag entnahm, hat sie nach vier Jahren fast 30.000 € weniger im Depot als Ben. Ihr Kapital hat sich von dem frühen Schock nicht erholt. Projiziert man dieses Szenario über 20 oder 30 Jahre, wird klar: Annas Risiko, dass ihr das Geld vorzeitig ausgeht, ist dramatisch höher.
Warum gerade ETF-Sparer hellhörig werden sollten
Die Buy-and-Hold-Strategie, das stoische Aussitzen von Marktschwankungen, ist der Grundpfeiler des Erfolgs vieler ETF-Anleger. Dieses Mindset ist in der Ansparphase Gold wert. Doch es birgt die Gefahr, dass man den kritischen Übergang in die Entnahmephase mental nicht vollzieht. Wer mit 65 noch ein 100 % Aktien-ETF-Depot fährt und glaubt, die alten Regeln gelten weiter, spielt mit dem Feuer.
Gerade Portfolios mit hoher Aktienquote, wie sie bei reinen MSCI World- oder FTSE All-World-Investoren üblich sind, haben eine hohe Volatilität. Diese Volatilität ist der Treibstoff für das Renditereihenfolge-Risiko. Ein Börsencrash von -30 % oder mehr in den ersten beiden Rentenjahren ist kein theoretisches Konstrukt, sondern eine reale Möglichkeit, die in der Vergangenheit mehrfach eingetreten ist (siehe 2000, 2008).
Auch die berühmte 4-%-Regel, die besagt, dass man jährlich 4 % seines Anfangsvermögens entnehmen kann, ohne dass das Kapital je zur Neige geht, basiert auf historischen Daten. Ihr größter Feind ist genau dieses Risiko. Die Regel hat in Simulationen nur deshalb so gut funktioniert, weil sie auch die schlimmsten historischen Rendite-Reihenfolgen überstanden hat. Aber eine Garantie für die Zukunft ist sie nicht.
Dein Schutzschild: Strategien gegen die falsche Reihenfolge
Panik ist ein schlechter Ratgeber. Das Renditereihenfolge-Risiko ist beherrschbar. Es erfordert lediglich einen strategischen Schwenk von der reinen Vermögensmaximierung hin zum Risikomanagement. Hier sind vier bewährte Ansätze, die du in Betracht ziehen solltest:
- Der gleitende Übergang (Glide Path)
Anstatt am Tag deines Renteneintritts hektisch umzuschichten, beginnst du bereits 5 bis 10 Jahre vorher, dein Risiko schrittweise zu reduzieren. Du verlagerst langsam einen Teil deines Vermögens von Aktien-ETFs in risikoärmere Anlagen wie Anleihen-ETFs oder einfach nur Cash (Tagesgeld). So stellst du sicher, dass ein plötzlicher Crash kurz vor der Ziellinie nicht dein gesamtes Portfolio erfasst. - Der Puffer für schlechte Zeiten
Dies ist vielleicht die wirkungsvollste und einfachste Strategie. Du baust einen Liquiditätspuffer auf, der deine Lebenshaltungskosten für ein bis drei Jahre deckt. Dieser Puffer liegt auf einem Tages- oder Festgeldkonto – sicher und jederzeit verfügbar. Kracht der Aktienmarkt zusammen, verkaufst du keine ETF-Anteile. Stattdessen lebst du von deinem Puffer und gibst deinem Depot die nötige Zeit, sich zu erholen. - Flexible Entnahmeraten
Wer sagt, dass du jedes Jahr exakt denselben Betrag entnehmen musst? Eine dynamische Strategie ist weitaus cleverer. In schlechten Börsenjahren (z. B. bei einem Minus von über 10 %) reduzierst du deine Entnahmen um beispielsweise 10-15 %. In sehr guten Jahren kannst du dir dafür etwas mehr gönnen oder deinen Cash-Puffer wieder auffüllen. Diese Flexibilität schont dein Kapital in den entscheidenden Momenten. - Die "Bucket"-Strategie
Für Fortgeschrittene bietet sich die Eimer-Strategie an. Du teilst dein Vermögen mental in drei Eimer auf:In guten Börsenjahren füllst du Eimer 1 aus den Gewinnen von Eimer 2 oder 3 auf. In schlechten Jahren lässt du Eimer 3 unangetastet und lebst nur aus Eimer 1.- Eimer 1 (kurzfristig): Cash und sehr sichere Anlagen für die Ausgaben der nächsten 1-3 Jahre.
- Eimer 2 (mittelfristig): Eine ausgewogene Mischung aus Anleihen und Aktien für die Ausgaben der Jahre 4-10.
- Eimer 3 (langfristig): Hauptsächlich Aktien-ETFs für das langfristige Wachstum, für Ausgaben in 10+ Jahren.
Fazit: Vom Autopiloten zum Co-Piloten werden
Das Renditereihenfolge-Risiko ist keine theoretische Spitzfindigkeit für Finanzmathematiker. Es ist eine reale und präsente Gefahr für jeden, der plant, von seinem ETF-Vermögen im Alter zu leben. Es zu ignorieren, wäre fahrlässig.
Die gute Nachricht ist: Du bist dem nicht hilflos ausgeliefert. Die Lösung liegt in einem bewussten Strategiewechsel. Der "Set it and forget it"-Ansatz, der dich reich gemacht hat, muss in den Jahren vor und zu Beginn des Ruhestands durch eine aktive Risikosteuerung ersetzt werden. Du musst vom Passagier auf Autopilot zum aufmerksamen Co-Piloten deines eigenen Vermögens werden.
Indem du Puffer aufbaust, dein Risiko graduell anpasst und deine Entnahmen flexibel gestaltest, nimmst du dem Renditereihenfolge-Risiko seinen Schrecken. Du hast dein Vermögen mit Disziplin und Weitsicht aufgebaut. Sorge nun mit derselben Klugheit dafür, dass es ein Leben lang hält. Dein zukünftiges Ich wird es dir danken.
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